Konzept

"NZ-INTEGRATION durch persönliche Weiterbildung und eigenverantwortliche Organisation"

1. Einführung: Aktuelle Situation und Probleme

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beträgt die Zahl der russischsprachigen Mitbürger, der Spätaussiedler, der jüdischen Kontingentflüchtlinge (im Text = Zielgruppe), die aus den Republiken der UdSSR stammen und die Bundesrepublik Deutschland als ständigen Wohnsitz haben, mehrere Millionen. Diese große Anzahl von Menschen, die die verschiedensten Sprachen ihrer Minderheiten sprechen, übertrifft heute bereits die bis vor kurzem noch zahlreichere nationale türkische Gemeinde in Deutschland. Darüber hinaus muß aber die Gruppe der deutschen Umsiedler, die sehr rasch in den Genuß der deutschen Staatsbürgerschaft gelangt ist, zur Zeit faktisch noch als "ausländische" Mitbürger bezeichnet werden.

Die Ursachen liegen in der mangelhaften Beherrschung der deutschen Sprache, ihrem niedrigen Grad an Informiertheit und daraus resultierend dem entsprechenden Bildungsniveau. Aus diesem Grunde fühlen sie sich noch auf lange Zeit in ihrer neuen Heimat als Fremde und können hier geborenen Deutschen nicht gleichgesetzt werden.

Eine derart hohe Zahl von faktischen "Ausländern" hat ihre negativen Auswirkungen. Sie liegen in der Zunahme der Spannungen auf dem Arbeitsmarkt, der Erhöhung der Sozialhilfeausgaben für die Langzeitarbeitslosen und der Verschlechterung der Lage auf dem Sektor Kriminalität (insbesondere im Jugendmilieu). Darüber hinaus kommt es in den Bezirken mit kompakter Besiedelung durch russischsprachige Bürger häufig zu Konflikten auf sozialer, nationaler und religiöser Grundlage. Das alles sind nur die vordergründig negativen Erscheinungsweisen, die aber immer wieder ins Auge fallen.

Die benannten Probleme führen immer häufiger zu psychologischen (mittlerweile auch zu psychischen) Problemen zwischen den Generationen der Jugendlichen und ihren Eltern. Die künstlich gestörte Verbindung zwischen den Generationen zeigt sich darin, daß die heutigen Absolventen deutscher Gymnasien aus den Reihen der Umsiedler, bereits nach wenigen Jahren ihres Lebens in Deutschland weitaus gebildeter sind, als ihre "rückständigen" Eltern, was dann zweifellos zu negativen Folgen führt. Dieser Vorgang ist immer stärker mit dem Verlust der elterlichen Autorität in den Augen ihrer Kinder verbunden. Auf diese Weise wird das Modell einer positiven, klugen und zielgerichteten Erziehung der heranwachsenden Generation als Voraussetzung für Selbstorganisation und Selbstvervollkommnung jeglicher Gesellschaft in Frage gestellt.

2. Analyse der Probleme und ihrer Ursachen

Die fünfjährige Erfahrung des Vereins "Neue Zeiten" mit seinen zahlreichen Filialen in verschiedenen deutschen Städten erlaubt es, einige grundsätzliche Probleme herauszustellen, die den negativen Erscheinungsweisen zugrunde liegen.

2.1. Dazu gehört der niedrige Bildungsstand der Immigranten in Bezug auf soziale Struktur, politische Systeme und kulturelle Traditionen ebenso wie die mangelhafte Kenntnis der ökonomischen Situation wie auch der Rechtslage des deutschen Staates, den die Immigranten zum neuen Wohnsitz gewählt haben.

2.2. Der Mangel an sozialen, kulturellen und geschäftlichen Kontakten, sowohl zu den einheimischen Deutschen wie auch zu ihren früheren Landsleuten.

2.3. Das Gefühl der Sinnlosigkeit und der nicht abgeforderten beruflichen - und Lebenserfahrungen führen zum Komplex psychischen Unterbewertetseins und Nichtgefordertwerdens. Letzterer wird zu einer Belastung für den Einzelnen, der sich nicht in die Gesellschaft integriert fühlt und letztlich auch zu seinem vorzeitigen intellektuellen Stillstand führt.
Hier muß vermerkt werden, daß diese Erscheinungsweise um so stärker den gebildeten Teil der Intellektuellen aus der früheren UdSSR betrifft, die dort einen relativ hohen Bildungsstand erreicht hatten.

Hierin ist auch letztlich das Bemühen der Intellektuellen zu sehen, den jugendlichen Landsleuten unter den Immigranten die Kultur, Sprache und die Traditionen des Landes, in dem sie geboren wurden, zu erhalten. Diese "Bewahrung der eigenen Wurzeln" und deren Pflege muß als ein natürlicher Prozeß gesehen werden und keinesfalls zu den Aufgaben der Integration in Widerspruch stehend.

3. Prinzipielles Herangehen bei der Problemlösung

Es ist offensichtlich, daß der Prozeß, der auf eine Erhöhung des Bildungsniveaus abzielt Umschulung, Wahl neuer Berufe und die umfassende Informiertheit der Neubürger in bezug auf ihren neuen Wohnsitz und seine Menschen, nicht allein auf die staatliche Ebene verlagert werden kann. Aus diversen Gründen sollen hier nur drei genannt werden:
- dies wäre für den Staat eine zu hohe finanzielle Belastung,
- das Bildungsniveau aller Umsiedler ist derart verschieden, daß es unmöglich ist, ein einheitliches, auf alle anwendbares Programm zu erarbeiten,
- die Immigranten sind so weit über Deutschland verstreut, daß eine wie auch geartete, organisierte Ausbildung praktisch nicht umzusetzen ist.

Unter diesen Bedingungen erscheint der ökonomisch erfolgreichste und der gleichzeitig optimale Weg, die Selbsthilfe zu sein. Dieses Programm der Selbsthilfe zielt auf persönliche Weiterbildung und eigenständige Organisationsformen ab.

(3.1.) Unter dem Prozeß persönlicher Weiterbildung verstehen wir, daß jeder Immigrant die ihn interessierenden und in seiner beruflichen Weiterbildung weiterführenden Themen studiert. Das wären Themen, die ihn persönlich ansprechen und in denen er sich durch seine frühere Ausbildung kompetent fühlt.

3.2. Unter selbstverantwortlicher Organisation verstehen wir, daß der Immigrant sich selbständig die Felder sozialen und beruflichen Engagements wählt. Dazu ist ein System von Maßnahmen unumgänglich, das den Einzelnen zur Weiterbildung und der Erweiterung seiner beruflichen und sozialen Kontakte veranlaßt.

Das bedeutet, daß Voraussetzungen geschaffen werden, Verfahren und Mittel bereitstehen, die in positiver Weise unsere russischsprachigen. Bürger zu Erfahrungsaustausch, gegenseitiger Hilfe und dem Zuwachs an entsprechend positiven Erfahrungen veranlassen.

4. Ziele der vorliegenden Konzeption

4.1. Erhöhung des Beschäftigungsgrades unter der russischsprachigen Bevölkerung, Senkung der Arbeitslosenzahlen durch eigenständige Organisation und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

4.2. Senkung der Kriminalitätsrate insbesondere unter der Jugend durch Rechtsbelehrung, Erweiterung der Sphäre gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit und die Erhöhung der Informiertheit der russischsprachigen Bevölkerung in Bezug auf konkrete Rechtsverletzungen und deren Verursacher.

4.3. Verminderung der sozialen Spannungen und Verbesserung der zwischennationalen Beziehungen zwischen den Vertretern der
verschiedensten Nationalitäten und Glaubensrichtungen, sowie zu den hier geborenen und zugezogenen Bürgern der Stadt.

4.4. Eine effektivere Nutzung des intellektuellen Potentials und der Berufserfahrung der Immigranten für die wissenschaftlichen, kulturellen und anderen Zwecke der Stadt.

5. Verfahren und Formen zur Erreichung der Ziele

5.1. Hierbei geht es um die Bereitstellung von ständig zugänglichen Begegnungszentren, die sowohl von den Mitgliedern der Zielgruppe, als auch von den gebürtigen Deutschen in den jeweiligen Städten genutzt werden können. Ein ständiges und thematisch breites Angebot an Veranstaltungen steht dabei im Mittelpunkt, während jegliche nationalen, religiösen und andersgearteten Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Zielgruppe hier keinen Platz finden. Der Hauptakzent der Arbeit in diesen Zentren liegt in der Arbeit mit Jugendlichen. Dazu wird folgendes vorgeschlagen:
- Kurse zur Einführung in den PC sowie Aneignung des Grundwissens über elektronische Medien und die Arbeit im INTERNET
- Bereitstellung von Bibliotheksbeständen aus den Reihen der Mitglieder der Zielgruppe
- ständige Betätigungsmöglichkeit in den Bereichen Wissenschaft, Literatur, Theater, Film, Medien, Photographie, Malerei, verbunden mit Ausstellungen, Vorträgen und Diskussionen
- reguläres Angebot von Sprach-, Musik,- Tanz und anderen Kursen
- Organisationstreffen zur Vorbereitung sportlicher Aktivitäten und Exkursionen

5.2. Die in regelmäßigen Zeitabständen gedruckt erscheinenden Schriften mit speziell informativem Gehalt für die Mitglieder der Zielgruppe ist auf deren berufliche, soziale und sonstigen Interessen gerichtet und stellt somit ein spezielles Bildungsangebot dar. Dabei steht im Vordergrund, daß diese Schriften, ihr Lokalkolorit behalten und unter den Mitgliedern kostenlos verteilt werden, damit sie praktisch jedem Immigranten, von denen eine große Anzahl von Sozialhilfe lebt, zugänglich sind. Wichtig erscheint, daß ein Großteil der Informationsschriften in russischer Sprache verfaßt wird, da ein erhebliches Potential der Zielgruppe (vornehmlich die älteren Bürger) in seiner Muttersprache liest und kommuniziert. Die deutsche Sprache sollte aber als Zusatzmaterial zu den interessantesten und aktuellsten Problemdarstellungen eingesetzt werden. Auf Zeit ist eine systematische Erhöhung des Anteils der deutschsprachigen Texte vorgesehen.

5.3. Die Herausgabe einer großen Zahl thematisch gebundener Broschüren für die Zielgruppe wird deren persönliches Interesse an ihrer eigenen Weiterbildung stimulieren und damit eine Brückenfunktion bis zum sicheren Beherrschen der deutschen Sprache leisten. Das heißt, daß die Broschüren auf die Bedürfnisse der Zielgruppe mit noch mangelhaften Deutschkenntnissen gerichtet ist. Durch die Vielzahl an Themen werden nicht nur aktuelle Fragen aufgeworfen, sondern auch die Schwierigkeiten und Zielausrichtungen selbsttätiger Weiterbildung Berücksichtigung finden.

6. Bestehende Voraussetzungen

Die vorliegende Konzeption wird in Teilen bereits seit zwei Jahren praktiziert. Während dieses Zeitraumes wurden durch die Mitglieder des Vereins "Neue Zeiten" in den verschiedensten Städten lokale und überregionale Veranstaltungen durchgeführt, die sich besonders auf die Punkte 5.2 und 5.3 der Konzeption beziehen.

6.1. Bis heute wurden durch die Vereinsmitglieder mehr als hundert thematisch gebundene Informationsbroschüren zu verschiedensten aktuellen Aspekten des Lebens in Deutschland verfaßt. Diese Broschüren sind nicht allein unter der Zielgruppe sondern auch bei den Institutionen anerkannt, die sich die Integration zur Aufgabe gemacht haben. Die Zahl der in den zwei Jahren versandten Broschüren umfaßt mehr als 20.000 Exemplare. Die Thematik bezieht sich auf die von den Immigranten dringend benötigten Informationen über ihre neue Heimat, wie Arbeitsrecht und Arbeitsvermittlung, Versicherung, Sozialhilfe, Finanz- und Bankwesen, Post und Telefon, Unternehmertum und Firmengründungen, ferner Broschüren zu sozialen Fragen, Fragen der Rechte und Pflichten der Staatsbürger, Kampf gegen Kriminalität und Drogen, Darstellungen über das Leben in Deutschland, Geschichte, Kultur, Geographie, politisches System und Beschreibung von Firmengeschichte aber auch Nachschlagewerke und Wörterbücher sind dadurch geschaffen worden.

6.2. Die Mehrheit der Broschüren wurde von den Immigranten selbst verfaßt, was auf der einen Seite die Qualifikation von hochausgebildeten Mitgliedern der Zielgruppe abfordert, die sich damit als gemeinschaftlich nützlich erweisen. Auf der anderen Seite unterstützen sie realiter die bislang weniger gebildeten Mitglieder der Zielgruppe bei ihrer Weiterbildung und eigenständigen Organisation.

6.3. Seit Oktober 1998 - zuerst in Heidelberg, dann in weiteren 8 Städten - werden Informationsblätter herausgegeben, die sich in einer begrenzten Auflage als kostenloses Lokalblatt anbieten. In diesen Info-Blättern werden in russischer und deutscher Sprache aktuelle Meldungen aus dem gegenwärtigen Leben der Stadt verbreitet.  Diese Blätter tragen dazu bei, daß Informationen deutscher Behörden und Organisationen direkt die Zielgruppe erreichen und konkrete, ortsbezogene Mitteilungen nicht verlorengehen. Diese Initiative ist in gleicher Weise positiv von den Immigranten wie auch von den örtlichen Behörden eingeschätzt worden. Der Wert, den dieses Info-Blatt zur Erweiterung sozialer Kontakte am Ort und damit für die Belange der Integration darstellt, kann nicht hoch genug bewertet werden.

6.4. Die Erhöhung der Anzahl von Filialen des Vereins "Neue Zeiten", die derzeit in den verschiedensten Städten die Zahl von zwanzig ausmachen, dient der Einbeziehung immer neuer Mitglieder aus der Zielgruppe in das Leben der Stadt und Region und verstärkt damit auch den Zugang zu den einheimischen Deutschen und den staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen am Ort, was letztlich den Zielen der Integration dient.

7. Träger und Unterstützer der Konzeption

7.1. Die Träger stellen in erster Linie jene Personen und Organisationen, die sich bislang in den Zielen der Konzeption engagiert haben. Das sind alle Filialen des Vereins "Neue Zeiten" in den Städten Augsburg, Heidelberg, Düsseldorf, Frankfurt, Köln, Dortmund, Berlin, Freiburg, Mühlheim, Brandenburg, Dessau, Duisburg sowie mehrere Gruppen, die in anderen Städten auf dieser Linie tätig sind. Davon gibt es derzeit etwa 3o Organisationsgruppen. Nimmt man die Zahl der Bezieher der Info-Blätter und Broschüren hinzu, werden nahezu 5o.ooo Menschen erreicht.

7.2. Zu den Unterstützern zählen staatliche, wissenschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle Institutionen und Industrievertreter, Unternehmer und religiöse Institutionen. Sie haben jeweils ihre Anteilnahme und ihr Interesse an den Zielen der Konzeption bekundet, nehmen allerdings nur sporadisch an deren Umsetzung teil. Einige beschränken sich auf den Beobachterstatus. Dies hat seine Berechtigung, insofern es sich bei der Umsetzung der Konzeption um einen Prozeß der gegenseitigen Selbsthilfe unter den Mitgliedern der Zielgruppe handelt. Im Verlauf der jüngsten Zeit sind als Unterstützer die Evangelische Kirche (in Frankfurt, Heidelberg u.a.), Arbeitsämter vieler Städte, der Berliner Senat, Ortsgruppen des Roten Kreuzes, die Mitglieder jüdischer Gemeinden (Düsseldorf, Heidelberg, Hamburg u.a.) die Polizeidirektion Heidelberg, das Bundesministerium für Wissenschaft, das Verfassungsgericht (Stuttgart), die Gesellschaft zum Kampf gegen Rauschmittelsucht, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Stiftung Mitarbeit und diverse Firmen (Informationsdienst Deutschlands in russischer Sprache, Engels Reisen, Bayer Kopierservices, Alma u.a.) in Erscheinung getreten.

8. Hauptaufgabe bei der Realisierung der Konzeption

Das Vorhergenannte unterstreicht die Wichtigkeit der zielgerichteten Umsetzung des Projekts. Gleichzeitig kann sich die Durchsetzung bei gegenwärtigem Tempo noch über Jahre hinziehen. Aus diesem Grunde besteht das vorrangige Ziel in der Gewinnung neuer Unterstützer in verschiedenen Städten Deutschlands. Mit dieser Konzeption wird potentiellen Unterstützern eine Handhabung übergeben, mit der sie neue Partner für konkrete Projekte auswählen können.

9. Nachbemerkung

Abschließend wenden wir uns an alle, die unsere Initiative unterstützen und ihr in der einen oder anderen Form Förderung zukommen lassen wollen.

Werte Förderer unserer Konzeption! Wir sind immer an der Erweiterung unserer Vereinsfilialen interessiert und warten auf neue Mitglieder aus der Zielgruppe, damit die Integration besser bewältigt werden kann.

Werte Förderer aus den Bereichen der städtischen Verwaltungen, der Wohltätigkeitsvereine, der Unternehmer, Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien, Mitbürger. Wie bitten um Ihre Unterstützung unserer Konzeption. Wir erbitten Hilfe auf regionaler Ebene. Ihre Beachtung und Förderung unserer Anliegen zur Integration werden in jeder Form an den Orten erwünscht.
 

Die vorliegende Konzeption wurde vom Präsidium des Klubs "Neue Zeiten" e.V. erarbeitet. Sie ist auf der Mitgliederversammlung am 12. Juni 1999 verabschiedet worden.
 

Dr. Wladimir Iskin
1.Vorsitzender "Neue Zeiten" e.V.